Samstag, 27. September 2008

Russlands Salamitaktik im Kaukasus - Sterben für Poti?

Mourir pour Dantzig?“ Sollen wir wegen Danzig den Krieg erklären und sterben? Das war die Frage, über die sich die Demokratien Europas in den Monaten vor dem 1.September 1939 den Kopf zerbrechen mussten. Hitler hatte gefordert, das mehrheitlich deutsch besiedelte, doch als „Freie Stadt“ unabhängige Danzig heim ins Reich holen zu können. Schon vor Danzig hatten die Westeuropäer befunden, wofür es sich ebenfalls nicht zu sterben lohne: für Aussig nicht (die sudetendeutsche Stadt an der Elbe) und auch nicht für Prag, von Wien ganz zu schweigen. So wurde Danzig zum nächsten Scheibchen für einen Metzgermeister, von dem man lange Zeit gehofft hatte, er werde auch künftig bei der Salamitaktik bleiben. Der weitere Verlauf ist bekannt: Am 1.September hat die Wehrmacht in der Hafenstadt „zurückgeschossen“.
Historischer Einschnitt. Es wäre verfehlt, vorschnell und oberflächlich Parallelen zur heutigen Situation zu konstruieren. Doch das Russland nach 1991 ist mit dem Deutschland nach 1919 von Experten und Publizisten schon tausendmal verglichen worden. An die Gemeinsamkeiten darf hier erinnert werden: Da ist eine für Dolchstoßlegenden und Verschwörungstheorien empfängliche, großenteils revisionistisch gestimmte Nation, deren führende Köpfe noch dazu auf einem politisch-kulturellen „Sonderweg“ ihres Landes beharren. Dazu der prekäre Zustand einer ungefestigten Demokratie. Schließlich die Versuchung, als Demütigung empfundene oder propagandistisch dargestellte Grenzziehungen einseitig rückgängig zu machen. Das war bisher alles graue Theorie. Doch der erste Militärschlag des postsowjetischen Russland im Ausland fügt diesen Vergleichen ein neues Kapitel hinzu. Dieser Einschnitt ist zweifellos historisch zu nennen.
Die Überwindung des Kommunismus. Kaum jemand hat dafür ein so waches Gespür wie die Bürger der Staaten östlich von Deutschland. Ihre Länder waren vor 1939 in der nachgerade tragischen Situation, gleich zwei übermächtige und expansionslüsterne Nachbarn zu haben – und die halbherzigen Verbündeten nur in der Ferne. Fast 70 Jahre danach haben viele dieser Länder den Sprung unter den Mantel von Nato und EU vollzogen. Danzig wurde zum Symbol der Überwindung des Kommunismus und der Aussöhnung mit den Deutschen. Aussig ist umgeben von guten Nachbarn. Estland und Lettland haben seit Kurzem endlich Grenzverträge mit Russland; die Entwicklung beider Länder bietet auch den russischen Minderheiten hinreichend Chancen und Integrationsanreize.
Sondergipfel der EU Eine der Grundvoraussetzungen des europäischen Zusammenwachsens war, dass die Deutschen ihre Lektionen aus der Geschichte gelernt haben. In der Tat: Deutschland hat Revisionismus und Sonderwegsdenken verworfen und der im 20.Jahrhundert virulenten imperialistischen Versuchung abgeschworen. Lässt sich das auch von der heutigen Moskauer Elite sagen?Wenn heute die EU zu ihrem Sondergipfel zusammenkommt, wird sie sich über das Vorgehen des russischen Militärs in der georgischen Hafenstadt Poti den Kopf zerbrechen. Mit der einen Hand das von Sarkozy ausgehandelte Friedenspapier unterschreiben, mit der anderen in Poti weiter Schiffe versenken – das ist keine vertrauensbildende Maßnahme Russlands. Noch tiefer sitzt bei den Europäern der Schock über die Anerkennung zweier Zwergstaaten, auf die eines Tages die Vergrößerung des russischen Staatsgebiets folgen könnte. Und nicht nur in der Schwarzmeerregion ist die Sorge groß, Südossetien und Abchasien könnten nur erste Salamischeibchen sein.
Sorge bei Russlands Nachbarn.Diese Sorge treibt vor allem die Nachbarn unserer Nachbarn um, jene, die (bisher) weder der Nato noch der EU angehören. Für sie hat die Epoche des „Zwischeneuropa“, wie jene Grauzone der Unsicherheit im Osten einst genannt wurde, mit der Gewinnung ihrer Eigenstaatlichkeit 1991 erst begonnen. Was vor 1939 wohlfeiles Argument der Diktatoren war, kann für sie auch heute zur Gefahr werden: der vorgebliche „Schutz“ der (in diesem Falle russischen) Minderheiten im Land, womöglich gar vor einem drohenden „Genozid“, wie ihn die Moskauer Propaganda mit Blick auf Georgien an die Wand malte. Dass heute mehr denn je zuvor die Kontrolle über die Rohstofftransportwege eine Rolle spielt, macht die Sache noch brisanter.
Die Diagnose. Wie sollte Europa reagieren? An erster Stelle muss die Diagnose stehen. Sind die Werte und Ziele der regierenden russischen Elite mit den gewachsenen Werten und Zielen der EU noch kompatibel? Die Antwort muss bei nüchterner Betrachtung großenteils negativ ausfallen. Sich um diese Erkenntnis nicht länger herumzudrücken ist am Tag des Georgien-Gipfels die eigentliche Aufgabe.Die Werte Russlands sind mit denen der EU nicht mehr kompatibel.


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